Bildergeschichten aus Wehrertüchtigungs-Lagern

Über die Wehrerziehung Jugendlicher zu schreiben oder zu sprechen ist etwas anderes, als die Jugendlichen, die man in dessen letzter Phase in aller Eile auf einen Kriegseinsatz und damit ihren wahrscheinlichen Tod vorbereitete, tatsächlich auch zu sehen. Erst der Blick in die jugendlichen, ja oftmals noch kindlichen Gesichter der 14-, 15- oder 16-Jährigen, die man 1944/45 allen Ernstes den hochgerüsteten und in allen Belangen überlegenen Alliierten entgegenschicken und so den „Endsieg“ erringen wollte, offenbart die ungeheure Skrupellosigkeit des NS-Regimes vollends.

Im Rahmen der von ihr systematisch betriebenen Wehrerziehung war die Reichsjugendführung bestrebt, dass die so „erzogenen“ und notdürftig ausgebildeten Jugendlichen mit Blick auf ihren Fronteinsatz die „Frage des ‚Warum‘?“ erst gar nicht stellten. Bedingungslose „Gefolgschaftstreue“ und daraus resultierende Opferbereitschaft waren die Zielvorgaben, die jede kritische Nachfrage ausschlossen. Stattdessen sollten die Jugendlichen mit „todesmutiger Einsatzbereitschaft an der Front ihren Mann“ stehen. Sie müssten, so wurde gefordert, angesichts moderner Kriegsführung das Gefühl aushalten, „jede Minute durch eine 30-cm-Granate in Atome zerfetzt zu werden“.

All das versuchten fronterprobte, oft verwundete Wehrmachtssoldaten und Angehörige der Waffen-SS zu vermitteln und tatsächlich todesbereite Kindersoldaten zu „produzieren“. Dass die oftmals nicht einmal körperlich in der Lage waren, die schweren Karabiner oder die Panzerfäuste überhaupt zu nutzen, spielte dabei offenbar keine Rolle.

Der Fotograf Walter Nies

Der 1918 in Lippstadt geborene Walter Nies entdeckte Mitte der 1930er Jahre seine Leidenschaft für das Fotografieren. Krankheitsbedingt von Arbeits- und Wehrdienst freigestellt, konnte sich der Autodidakt ganz auf die Fotografie konzentrieren. Von 1942 bis zum Kriegsende arbeitete er für die Bannbildstelle der Lippstädter Hitlerjugend, seit 1943 parallel auch die jene des HJ-Gebiets Westfalen-Süd. [1]

So kam Walter Nies auch an Orte, die anderen verschlossen blieben. Das gilt auch für die verschiedenen Wehrertüchtigungslager der Hitlerjugend, in denen er die Ausbildung und die Übungen der Jugendlichen als seitens der Organisation beauftragter Dokumentar festhielt. Insofern spiegeln seine, die reale Situation stark verharmlosenden Fotos die Sicht seiner Auftraggeber wieder und sind somit als Teil der NS-Propaganda zu betrachten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb? – vermitteln sie gerade aufgrund der scheinbaren Harmlosigkeit und der Kindhaftigkeit der Abgebildeten vielsagende Einblicke in die Brutalität eines menschenverachtenden Regimes.

Ralf Blank, der sich intensiv mit dem Foto-Nachlass von Walter Nies beschäftigt hat, schreibt über die hier abgebildeten Fotostrecken: „Im März 1945 fertigte Nies auch eine weitere überlieferte Sequenz an, die wahrscheinlich vollständig erhalten ist. Sie dokumentiert die Ausbildung von HJ-Angehörigen an Panzerfaust, Minen und Maschinengewehr. Die vermutlich dem Geburtsjahrgang 1929 angehörigen Jugendlichen wurden von zwei Scharführern der Waffen-SS sowie von zwei älteren HJ-Führern ‚geschult‘. Die Aufnahmen lassen sich mit den eindrucksvollen Fotografien von Hitlerjungen mit Panzerfäusten im ‚Einsatz‘, die bei Kriegsende von Hilmar Pabel und einem unbekannten Fotografen in Berlin und in Frankfurt/Oder angefertigt wurden, vergleichen. Die Bildserie von Walter Nies wurde wahrscheinlich in der Umgebung des Ausweichquartiers der HJ-Gebietsführung in Hohenlimburg angefertigt. Ähnlich wie in einem ‚Wehrertüchtigungslager‘ - im Herbst 1944 hatte Nies die Abfahrt von Jugendlichen vom Hauptbahnhof Hagen in ein solches Lager fotografiert - wurden die 15- und 16-jährigen Jungen vormilitärisch ausgebildet und auf ihren ‚Fronteinsatz‘ vorbereitet. Weitere und wohl zeitgleich entstandene Fotografien von Walter Nies zeigen Kinder, die von älteren HJ-Angehörigen bei einer gestellten Gefangennahme angeleitet werden. Bei diesen Fotografien drängen sich Assoziationen auf, die einen Zusammenhang mit dem in den letzten Kriegsmonaten initiierten ‚Werwolf‘ vermuten lassen. (…) Vor dem Hintergrund des bevorstehenden militärischen Zusammenbruchs und der Eroberung des Gaugebiets durch US-amerikanische Truppen erhalten diese Aufnahmen eine besondere Aussagekraft und inhaltliche Dimension.“ [2]

Wehrerziehung im Film

Inhalt des 22-minütigen, recht professionell anmutenden und wohl 1942/43 entstandenen Amateurfilms ist die Wehrerziehung von Schülern in der 1938 eingerichteten „HJ-Führerschule“ im österreichischen Grödig. Von viel Sport reicht das Programm über Handgranatenzielwerfen, Geländekunde bis zum umfassenden Schießunterricht.

Im zweiten Teil des Films wird die Ausbildung dann – wie in Wehrertüchtigungslagern üblich – von Wehrmachts- und Waffen-SS-Angehörigen übernommen und in Militäruniformen fortgesetzt. Aus Hitlerjungen sind Soldaten geworden.

 

Der Film wurde freundlicherweise vom United States Holocaust Memorial Museum zur Verfügung gestellt.

Fußnoten

[1] Für einen biographischen Abriss vgl. Claudia Becker: Die Welt durch den Sucher gesehen und weiter gegeben. Der Lippstädter Fotograf Walter Nies; in: Barbara Stambolis/Volker Jakob (Hgg.): Kriegskinder. Zwischen Hitlerjugend und Nachkriegsalltag. Fotografien von Walter Nies, Münster 2006, S. 37-40

[2] Ralf Blank: Zur historischen Einordnung der Sammlung Walter Nies; in: Stambolis/Jakob, Kriegskinder, S. 41-56, hier S. 52

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