„Landaufenthalt“ in Tecklenburg (Januar 1934)

Über einen dieser ersten „Nationalpolitischen Lehrgänge“ und für die Fortsetzung der Maßnahme bis 1936 liegen für das Gymnasium im westfälischen Bocholt nähere Informationen vor.

Aufgrund einer Verfügung des Oberpräsidiums in Münster vom 30. Dezember 1933 fuhren 54 der insgesamt 66 Oberprimaner des Bocholter Gymnasiums vom 6. bis zum 18. Januar zu einem – wie es zunächst noch hieß – „Landaufenthalt“ in die Jugendherberge in Tecklenburg.[1] Als sie zurückgekehrt waren, berichtete die lokale „Zeno-Zeitung – Volksblatt für Bocholt“ am 20. Januar in einem großaufgemachten, nahezu einseitigen Artikel unter der Schlagzeile „Gemeinschaftslager“ über den Ausflug der Abiturienten.

Verfasser Herdemann, zugleich Studienrat am Bocholter Gymnasium und gemeinsam mit dem späteren Direktor Raestrup einer der Lagerleiter, definierte den zweiwöchigen Aufenthalt in der Jugendherberge als erstes Zeichen der für Ostern angekündigten „großen Reformen“ im Schulwesen sowie als gezielte Vorbereitung auf den nach dem Abitur für jene Schüler anstehenden Arbeitsdienst, die danach ein Studium aufzunehmen trachteten. „Die meisten Abiturienten werden durch den Arbeitsdienst hindurchgehen. Um sie auf diesen Dienst vorzubereiten, ordnete die Regierung die Unterbringung der jungen Leute vor dem Abiturientenexamen in einem Gemeinschaftslager an.“ Das geschah, wie offen eingestanden wurde, praktisch ohne Richtlinien und andere Vorgaben, denn es habe sich ja um einen „ersten Versuch“ gehandelt. „Die Pflege des Volksgemeinschaftsgedankens, charakterliche Durchbildung der jungen Leute und die Bekanntmachung mit Land und Menschen eines anderen Landstriches unseres deutschen Vaterlandes waren die wichtigsten Punkte des Programms“, das es im engeren Sinne ja gar nicht gab.

Die ausführlichen Schilderungen des Studienrats erschöpften sich dann in der Beschreibung von Wanderungen, Besichtigungen und Führungen. Immerhin wurde darüber berichtet, dass die Schüler zum „Abschluss der Lagerzeit“ am Grab des beim Hitler-Putsch im Jahre 1923 in München ums Leben gekommenen und in unmittelbarer Nähe der Tecklenburger Jugendherberge bei Lengerich beigesetzten Hans Rickmers eine Feierstunde abgehalten und dabei einen Kranz niedergelegt hätten. So sei, hieß es am Ende des Artikels, während des zweiwöchigen Lehrgangs „ein reiches Material an die Abiturienten herangetragen“ worden. „Ein andersartiger Landstrich wurde ihnen zum tiefen Erlebnis, die aktive Teilnahme an einem turnerischen Festabend und an einem Fußballwettspiel gaben der Volksgemeinschaft mit der Tecklenburger Bevölkerung auch äußerlich Ausdruck. Möge die aufgewandte Arbeit Volk und Vaterland zum Segen gereichen.“

Was in dem umfangreichen Zeitungsartikel vergleichsweise harmlos daherkam, war tatsächlich wohl ideologisch weitaus stärker aufgeladen und verfolgte eindeutig das Ziel massiver politischer Indoktrination. Das jedenfalls geht aus einem „Bericht über den Landaufenthalt der Abiturienten“ hervor, den Direktor Raestrup als Lagerleiter und Herdemann als dessen Stellvertreter nach ihre Rückkehr auftragsgemäß dem Provinzialschulkollegium in Münster zukommen ließen. Neben den auch im Pressebericht wiedergegebenen Inhalten wurde hierin insbesondere über die eigentlichen Ziele der Maßnahme berichtet:

„Zur Erzielung soldatischer Kameradschaft wurden die 53 Schüler sofort nach Eintreffen in Tecklenburg in Schare und Trupps eingeteilt. Diese standen unter dem Kommando von Schülern, die in der SA Unterführerposten bekleiden. In dieser Einteilung wurden die Lagerinsassen auch auf die Schlafräume verteilt, auf denen die Führer als Stubenälteste für alles verantwortlich waren. Auch bei den Mahlzeiten wurden nach dieser Einteilung die Plätze verteilt. Nach den Scharen wechselten täglich der Küchen- und Hausdienst. Vor dem Nachmittagskaffee wurde dieser täglich von den Führern übergeben und übernommen. Die Beschäftigung des ganzen Tages wurde mit militärischer Pünktlichkeit geregelt und zu jedem Dienst mit der Trompete das Zeichen gegeben. Auf diese Weise wurde die Lagerbesatzung zu fester Kameradschaft zusammengeschweißt. Sie fühlte sich von vornherein im Zusammenwirken mit den Lehrern für das Lager selbst verantwortlich.
Schon die Flaggenparade, die an jedem Morgen vor der Einnahme des Kaffees stattfand, und bei der immer ein kurzer Abschnitt aus Gehl [2] vorgelesen wurde als Tagesspruch, diente zur Pflege des Gemeinschaftsgeistes. Während die Vormittage in der Regel zu Märschen, Wanderungen und Besichtigungen benutzt wurden, dienten die Nachmittage und Abende dazu, im Lager selbst den Geist der Gemeinschaft zu wecken. Die Gemeinschaften, an denen alle Schüler gern teilnahmen, wurden vor allem dazu verwandt, zu nationalsozialistischem Denken zu erziehen. Es wurden Lesungen und Besprechungen abgehalten. Benutzt wurden Hitler ‚Mein Kampf‘, Karl Zimmermann ‚Die geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus‘, Johannes Eilemann ‚Deutsche Seele, deutscher Mensch, deutsche Kultur und Nationalsozialismus‘. Die Abendstunden dienten der Erholung durch Gesang, Musik und Lektüre ernster und heiterer Art, Die Ausgestaltung dieser Stunden übernahmen die Schüler selbst.“

Auch in anderer Hinsicht sollten die Schüler offenbar an die Situation in den Lagern des Arbeitsdienstes und langfristig sicherlich an jene in den Militärkasernen gewöhnt werden. So berichteten die beiden Bocholter Lehrer nach Münster, die Verpflegung in der Jugendherberge sei zwar gut zubereitet gewesen, doch habe das zur Verfügung stehende Brot kaum ausgereicht. „Auch klagten die Schüler darüber, dass die Nahrung zu wenig fettreich sei. Leider gingen manche Schüler dazu über, sich von Hause Lebensmittel schicken zu lassen. Wir haben es zugelassen; es dürfte sich aber in Zukunft empfehlen, es zu verbieten; denn es widerspricht dem Geist der Gemeinschaft und Kameradschaft.“ Man habe aber immerhin erreicht, dass „alles Geschickte kameradschaftlich geteilt“ worden sei. Außerdem, so wurde angesichts der knappen Verpflegung betont, sollten sich „die Jungen an eine schmalere Kost gewöhnen“. Die meisten Schüler hätten während des Lehrgangs Uniform getragen, was sich „durchaus bewährt“ habe. „Marsch der uniformierten Schüler durch das Städtchen machte immer Eindruck auf die Bevölkerung. Auch veranlasste das Tragen der Uniform die Schüler, auf sich zu halten.“

Fußnoten

[1] Alles Folgende nach Schularchiv Georg-Gymnasium Bocholt, F 29

[2] Es handelt sich hierbei um die im Mai 1933 von Walther Gehl herausgegeben und in den Folgejahren mehrfach ergänzte Quellensammlung „Die nationalsozialistische Revolution“.

x K-